Drehscheibe Nr. 79 September 2017

10 | Ausgabe 79 - September 2017 H I STOR I SCHE BETRACHTUNGEN Seit 1857 verbindet die Südbahn, von Wien über Graz und Laibach/Ljublja- na nach Triest/Trieste führend, den österreichischen Donauraum mit der oberen Adria. Als frühe Meridionale, deren erstes Teil- stück 1842 eröffnet wurde, markierte sie den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Die Südbahn be- schleunigte und verstärkte industrielle wie ökonomische Prozesse in den von ihr tangierten Regionen. Diese konnten mit einigen Besonderheiten aufwarten. Wie eine Schlangenlinie führt seit 1854 das vom Venezianer Carl von Ghega geplante Semmeringteilstück durch und über das Gebirge, bis endlich der Schei- telpunkt in 898 Metern Seehöhe erreicht ist. Keine andere Bahn der Welt hatte bis dahin eine solche Höhe befahren, keine zweite Linie konnte mit vergleich- baren Ausblicken aufwarten. Eine neue Art von Kulturlandschaft war entstanden, sie machte die Südbahn auch zu einer Tourismusader. Neben dem Semmering macht die Zielregion eine weitere Beson- derheit der Südbahn aus. Allein mit ihrem Namen lockte die Verbindung in eine mediterrane Ferne. „Der Süden war das Meer, ein Meer aus Sonne, Freiheit und Glück.“ (Joseph Roth). Und ihr Endpunkt Triest präsentierte sich als ein Unikat in der gesamten Donaumonarchie: multi- kulturell, multireligiös, ein adriatisches Ringstraßen-Wien mit fremdländischen, orientalischen Akzenten und ökonomi- scher Seele. Die Südbahn ließ die Han- delsumsätze steigen und förderte somit auch die Schifffahrtslinien. Triest konnte sich bald mit Hamburg oder Rotterdam vergleichen. An die 700 Eisenbahnwag- gons zählte man 1913 täglich im Hafen. Während des Ersten Weltkrieges wurde die Südbahn zur Nachschublinie für die Isonzo- und Karstfront. Das Ende der Donaumonarchie Das Kriegsende bedeutete eine rigorose Zäsur. Triest kam an Italien, der Hafen verlor an Bedeutung, die Südbahn, auf- geteilt auf drei Staaten, wurde zu einer Nebenbahn degradiert. Ihr Name ging auf die „neue“ Südbahn (Wien-Bruck/ Mur-Klagenfurt-Villach-Tarvis/Tarvisio) über. Graz plädierte für eine Vollbahn über die Pack nach Kärnten, doch wurde dem Bau einer Straße Vorrang gegeben. Der Zweite Weltkrieg brachte Zerstörun- gen und nach 1945 verlagerte sich der wirtschaftliche Schwerpunkt Österreichs zusehends nach Westen. Das brachte negative Auswirkungen auf den südli- chen Hauptstrang der Bundesbahnen, wozu die Nähe zur Schnittlinie der gro- ßen politischen Blöcke das Ihrige beitrug. Die Verbindung Graz–Spielfeld wurde auf ein Gleis reduziert. 1962 startete der Versuch, die Schnellzugsverbindung Wi- en-Graz-Triest wieder aufleben zu lassen. Zwei Staatsgrenzen, Pass- und Zollkont- rollen sowie verschärfte Visabestimmun- gen in Italien führten jedoch bald zur Ein- stellung des Kurses. Heute, obwohl frei von Grenzen, verkeh- ren keine direkten Züge mehr zwischen Wien, Graz und Triest. Die alte Südbahn ist, so Ernst Molden, zum „Rückgrat ei- ner Sehnsucht“ geworden, die „zur Mitte des 19. Jahrhunderts geboren wurde.“ Text: Dr. Gerhard M. Dienes v. Universalmuseum Joanneum Fotos & Bilder: Privatbesitz Graz & GKB_Archiv Sehnsuchtsort Triest: Der Hafen an der oberen Adria war eines der ersten Fernreiseziele der österreichisch-ungarischen Monarchie 160 Jahre Südbahn Vom Donauraum zur Adria

RkJQdWJsaXNoZXIy NTgxNjc=