8 | Ausgabe 106 - Juni 2024 Drehscheibe: Herr Executive Director Doppelbauer, sie sind ein ausgewiesener Eisenbahnexperte. Daher vorweg eine allgemeine Frage: Welche Bedeutung hat die Bahn für die Zukunft Europas? EXDIR Doppelbauer: Die Schiene wird eine tragende Rolle im multimodalen Verkehrssystem Europas spielen. Die Bahn ist das energieeffizienteste Massentransportmittel zu Land, sie ist dank ihrer Umweltfreundlichkeit dazu prädestiniert, einen wichtigen Beitrag zum Erreichen des Ziels der Klimaneutralität Europas bis zum Jahre 2050 zu leisten. Europas Eisenbahnen haben eine lange Tradition auf unserem Kontinent und haben die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts ermöglicht, bevor sie nach dem zweiten Weltkrieg in den Hintergrund traten. Im heutigen Zeitalter der vierten industriellen Revolution, welche sich durch Vernetzung, Digitalisierung und Nachhaltigkeit auszeichnet, erleben die Bahnen ein Comeback. Drehscheibe: Seit 2015 leiten Sie die Eisenbahnagentur der Europäischen Union. Was ist die ERA und welche Aufgaben und Ziele hat sie? EXDIR Doppelbauer: Die ERA ist eine Agentur der Europäischen Union, im Wesentlichen die Systembehörde für Eisenbahnen in Europa. Neben unseren Kernaufgaben Eisenbahnsicherheit und Interoperabilität sind wir seit 2019 Genehmigungsbehörde – wir stellen euro- „Regionale Mobilitätsdienstleister bringen das Produkt Bahn zum Kunden!“ Anlässlich der EU-Wahlen 2024 interviewten wir den Executive Director der ERA Dipl.-Ing. Dr. Josef Doppelbauer. Der EU-Spitzenbeamte sprach mit der Drehscheibe über seine Behörde, das angestrebte einheitliche EU-Eisenbahnsystem und zukünftige europäische Verkehrspolitik. päische Fahrzeuggenehmigungen und Sicherheitsbescheinigungen sowie auch Genehmigungen für mit ERTMS ausgerüstete Eisenbahninfrastruktur aus („ERTMS Trackside Approval“). Zusammen mit den nationalen Sicherheitsbehörden und dem Eisenbahnsektor Europas erarbeiten wir die Technischen Spezifikationen für Interoperabilität (TSI), welche den technischen Eckpfeiler für den gemeinsamen europäischen Eisenbahnraum („Single European Railway Area“ / SERA) darstellen, und in Form einer schlanken Regulierung den Weg in die Zukunft weisen – zum Beispiel auf Themen wie Multimodalität, automatischen Fahrbetrieb (ATO), oder das zukünftige mobile Kommunikationssystem für Schienenverkehrssysteme. Wir setzen uns zunehmend mit der Digitalisierung und mit Fragen des modernen Datenmanagements auseinander. Dabei machen wir die verschiedenen Datenbanken, die sich unter unserer Obhut befinden, zukunftstauglich. Mit Hilfe semantischer Technologien werden die Datensätze, die ursprünglich in einem Silo für einen einzigen vor langer Zeit formulierten Zweck ihr Dasein gefristet haben – z. B. in ERADIS, der Datenbank für alle die Eisenbahnsicherheit und Interoperabilität betreffenden Zertifikate – nun mit anderen Funktionen verknüpft und dadurch neuen Anwendungsbereichen zugeführt. Dieser „Daten-zentrierte“ Ansatz wird in den kommenden Jahren sukzessiv auf alle Aktivitäten der Agentur angewandt werden. Neben den Kernaufgaben beschäftigt sich die ERA im Rahmen ihres Mandats auch mit verschiedenen Zukunftsthemen im Verkehrssektor, oft in Partnerschaft mit nationalen und internationalen Institutionen und Organisationen und auch dem europäischen Eisenbahnsektor. Darunter sind Themen wie Cyber Security, Multimodalität, der EU Green Deal, sowie mitarbeiterbezogene Aspekte wie Förderung des Nachwuchses, Diversität und Inklusion im Eisenbahnsektor, und vieles mehr. Sie sehen, wir haben einen klaren Blick auf die Aufgaben und Herausforderungen, die sich uns jetzt und in Zukunft bei der Harmonisierung und Vereinheitlichung des europäischen Eisenbahnsystems stellen. Drehscheibe: Die ERA konzipiert also, als europäische Behörde, die Regeln für ein einheitliches EU-Eisenbahnsystem? Warum braucht es diese Vereinheitlichung im Bahnbereich? EXDIR Doppelbauer: Die Eisenbahn ist das einzige Verkehrsmittel, das keine international einheitlichen Regeln hat – Zugsverkehr über nationale Grenzen ist kompliziert, daher ist auch der Modalanteil der Schiene für den grenzüberschreitenden Verkehr wesentlich geringer als im nationalen Verkehr. Die Freizügigkeit von Personen und Gütern ist aber für die EU als politisches und wirtschaftliches Konstrukt von fundamentaler Bedeutung. Im Güterverkehr haben Züge oft stundenlange Wartezeiten an den Grenzen, welche die Bahn unattraktiv machen und damit LKW-Lawinen auf unseren Straßen bewirken. Menschen, die z. B. in Bratislava wohnen, möchten nach Wien fahren und umgekehrt, und das gilt für alle urbanen Ballungsräume in Europa – die Menschen wollen grenzüberschreitende Mobilität, das Denken der nationalen Entscheidungsträger für die Bahnen endet aber leider oft an den nationalen Grenzen. Eine weitere Konsequenz der Kleinstaaterei ist, dass auf Grund der unterschiedlichen technischen Vorschriften Züge und andere technische Einrichtungen für den jeweiligen nationalen Anwendungsfall „maßgeschneidert“, d. h. zu hohen Kosten in Kleinserien angefertigt werden. Die Vereinheitlichung INTERVIEW | Executive Director Dr. Josef Doppelbauer
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